Psalm 133
Wie wohltuend, wie schön, wenn Brüder beieinander bleiben und sich gut verstehen ! Das ist wie das gute, duftende Öl, aufs Haar des Priesters Aaron gegossen, das hinunterrinnt in seinen Bart, bis zum Halssaum seines Gewandes. Das ist wie erfrischender Tau vom Hermon, der sich niedersenkt auf den Zionsberg. Dort will der Herr seinen Segen schenken, Leben, das für immer besteht.
Dies ist ein ganz kurzer Psalm, der vertont wurde und den man mit Begeisterung während der Gottesdienste und der Versammlungen sang, vor allem den Vers 1, denn auf den ersten Blick können einem die beiden folgenden Verse etwas seltsam vorkommen. Es ist ein Loblied auf die Bruderliebe und da kann man sich fragen, was Aarons Bart damit zu tun hat, der mit Öl getränkt ist, das dann auf die Kleider tropft. Diesselbe Frage gilt auch für den Berg Hermon, der sicher den wenigsten bekannt ist. Diese ziemlich unerwarteten Bilder sagen uns etwas über die brüderliche Gemeinschaft. Die Verse 2 und 3 beginnen jeweils mit « das ist wie… ». Sie erklären, was der Dichter David über die zarte Freude sagen wollte, die man empfindet, wenn man beieiander ist oder wohnt.
1. Der Text : ein Lied zu singen auf dem Weg nach Jerusalem (Psalme 120-134)
In feierlichem Zug nach Jerusalem hinaufpilgern
Oder Lieder zu singen auf den Stufen des Tempels ?
Sie gehören also zum Ritual des Pilgers, der in Jerusalm ankommt.
A. Die Brüder ?
Wer sind diese versammelten Brüder ? Im Alten Testament bezeichnete das Wort « Bruder »
- die Kinder der gleichen Vater und Mutter (Genesis 4.8), sowie den Halbbruder oder die Halbschwester (Genesis 20.16 ; 37.4),
- die Glieder der selben Familie (Vetter, Neffe, wie z. B. Abraham und Lot, usw.),
- oder die Mitglieder des selben Stamms (Genesis 31.32) oder des selben Volks (Exodus 2.11 ; Levitikus 25.25 ; Numeri 25.18 ; Römer 9.3).
Das Wort « Bruder » bezeichnet auch einen engen Freund (David und Jonathan, 2. Samuel 1.26) oder einen Verbündeten (als Ausdruck der Achtung, Numeri 20.14) oder seinen Nächsten (Deuteronomium 15.12). Der Begriff der Brüderlichkeit beinhaltet auch immer den Aspekt der gegenseitigen Solidarität und Verantwortlichkeit. Niemand darf wie Kain fragen : « Soll ich ständig auf meinen Bruder aufpassen ? » (Gn 4.9)
Die Brüder sind die Glieder des Volkes Gottes
Das hebräische Volk ist eine grosse Familie von Brüdern. In diesem Psalm liegt es auf der Hand, dass die betreffenden Brüder die Glieder des hebräischen Volks sind, die sich im Tempel in Jerusalem zu einem der drei grossen jährlichen sogenannten « Pilger »-feste versammelt haben. Zusammen mit den Einwohnern Jerusalems haben sie sich zu einer grossen Feier versammelt. Diese Brüder sind, sitzen, wohnen beieinander. Wie schön ! Jeder Zwist, jede Uneinigkeit ist vergessen.
Was bedeutet das Öl ?
Welches Verhältnis soll man zwischen dem auf den Kopf gegossenen Öl, Aarons Bart, dem Gewandsaum und dem Tau, der von einem Berg auf einen anderen fliesst, sehen ? Was soll das bedeuten ?
Das erinnert einen an die Ölsalbung, die den Königen, den Propheten und den Priestern gewährt wurde. Diese Salbung ist vor allem das Zeichen der Gegenwart Gottes über dem, der sie erhält. Sie ist auch das Zeichen eines Auftrags, der ihm von Gott in der Welt aufgegeben wird. Gottes Gegenwart in seiner Liebe und der Dienst an anderen gehören zusammen. So besteht ein rechtes Verhältnis zu Gott darin, viel von ihm zu bekommen, um den anderen viel weiterzugeben.
Wer diese Salbung empfing, hiess auf Hebräisch « Messias », was auf Griechisch mit « Christos » übersetzt wird. « Christus » ist also kein Familiennname für Jesus und auch kein ihm vorbehaltener Titel. Dieser Titel betrifft denjenigen, dem man ein besonderes Machtbefugnis zum Regieren oder zum Weissagen anerkannte, weil Gottes Gegenwart auf ihm war. Dieses Sinnbild des Öls als Veranschaulichung von Gottes Gegenwart wurde nicht per Zufall so gewählt : man denke nur an all die Benutzungen des Öls in der mittelmeerischen Kultur :
- Öl ist eines der Grundnahrungsmittel : mit Olivenöl und Mehl bereitet man Fladen zu, z. B. in der Geschichte Elijas bei der Witwe in Sarepta.
- Öl brauchte man auch als Brennstoff in den Lampen ; es ist also eine Lichtquelle. Dieses Bild des Öls als Brennstoff kommt als Sinnbild in einem Gleichnis Jesu wieder vor.
- Öl benutzte man auch, um Wunden zu pflegen und um Schmerzen zu lindern, als Salbe. Der barmherzige Samariter giesst Öl auf die Wunden des Verletzten.
Öl ist auch ein Bild für das, was Gott uns durch seine Gegenwart in uns schenkt.
- So wie unser Körper Nahrung braucht, so muss auch unser geistliches Leben vom Heiligen Geist genährt werden, den Gott uns schickt. Dann kann sich unser geistliches Leben entfalten.
- « Der Mensch lebt nicht nur von Brot, er lebt auch von jedem Wort, das Gott spricht » (Matthäus 4.4) und wir wissen ja, dass Christus Jesus unser « Lebensbrot » ist.
- Gottes Wort erleuchtet uns, es gibt unserem Leben Sinn, es vertreibt unsere Ängste, so wie eine Lampe uns nachts hilft. Auch in dieser Hinsicht ist Christus für uns das « Licht der Welt ».
- Zuletzt ist Gottes Gegenwart wie eine Salbe auf unserem Herzen, die uns Trost und Heimlichkeit bringt.
Der Psalm 133 geht sehr weit, indem er uns sagt, dass wir das alles auch in einem brüderlichen Verhältnis mit einem anderen finden werden. In der Einheit mit Geschwistern schöpft man Licht, Nahrung und Leben für sein Dasein. Wenn man so lebt, dann ist es, wie wenn Gott selbst zu uns käme, um unser Leben zu erneuern. In der zueinander erlebten Liebe bekommen wir Gottes Geschenke, seinen Segen, seinen Geist, sein Wort. Indem wir uns den Anderen öffnen, öffnen wir uns auch Gott. Dergleichen wird auch Christus das ganze Gesetz in allen Lagen mit « Liebe deinen Nächsten wie dich selbst ! » zusammenfassen, ein Gebot, von dem es heisst, es sei dem anderen gleich : « Liebe Gott von ganzem Herzen ! »
Der Kopf und der Bart
Dieses Segnungsöl, dieses « gute Öl » rieselt, wie es der Psalm beschreibt, vom Kopf bis in den Bart. Im Hebräischen bezeichnet das Wort « Kopf » ebenfalls den Anfang oder die Jugend. Und das Wort « Bart » bedeutet auch « das Alter ». Wir dürfen also sagen, dass das ganze Leben durch die Bruderliebe und Gottes Segen erhellt wird. Das Leben eines jeden unter uns, von Geburt an bis zum Tod, wird von Gott genährt, erleuchtet und gepflegt, in Verbindung mit denen, die als Brüder zu leben verstehen. Das kann man in jedem Alter erleben und geniessen, von der kleinsten Kindheit an bis ins höchste Alter ; da liegt verborgen das allgemeingültige Geheimnis des Guten, des Glücks des Segens und der Ewigkeit.
Aarons Bart
Betrachtet man den Text etwas genauer, so merkt man, dass es da eigentlich zwei Bärte gibt und der zweite ist Aarons Bart. Aaron war Moses Bruder und Sprachrohr, Israels Hohepriester ; er war an sich das Sinnbild der Beziehung zu Gott… und auf Hebräisch bezeichnet das Wort « Bart » auch die Macht oder die Autorität. Was hier im Spiel ist, ist also die Stärke unserer Beziehung zu Gott. Und die Kraft unseres Verhältnisses zu Gott wird durch diese wertvolle Salbe der Bruderliebe durchflutet, genährt, erhellt und verstärkt. Liebe ist was ein ganzes Leben, auch das geistliche oder religiöse Leben erneuert und erhellt. Ohne Liebe würde es unserem geistlichen Wesen an Licht, Nahrung und Leben fehlen (vgl. 1 Kor 13).
Der Gewandsaum – die Tsitsits
Dann lesen wir, dass das Öl bis zu Aarons Gewandsaum rinnt. Das bezieht sich auf die rituellen Fransen, die die Juden an den Rand ihrer Kleider nähten und « Tsitsits » nannten
4 Moses 15.38-40 :
Die Israeliten und alle ihre Nachkommen sollen Quasten an den vier Zipfeln des Tuches anbringen, das sie als Obergewand tragen. An jeder Quaste muss eine violette Kordel sein. Jedesmal, wenn ihr die Quaste seht, sollen sie euch an meine Gebote erinnern. Sie sollen euch mahnen, dass ihr nach meinen Weisungen lebt und euch nicht von euren Gedanken und euren lüsternen Augen zum Ungehorsam verleiten lässt. Dann werdet ihr ein heiliges Volk sein, ein Volk, das seinem Gott ganz gehört.
Die Fransen sind da, um den Gläubigen an Gottes Gebote zu erinnern, die er einhalten soll. Im Spiel ist also diesmal der Gehorsam Gottes Willen, die Treue ihm gegenüber. Zudem kann bemerkt werden, dass für den Psalmisten die Einhaltung dieser Regel nicht das Wichtigste ist, sondern hinter dem personlichen Verhältnis zu Gott, nach dem Herzensglauben kommt. Jedenfalls kann schlussendlich die Einhaltung der Gebote in dieses einzige Gebot zusammengefasst werden, das eigentlich die Botschaft des Evangeliums darstellt : seinen Nächsten lieben. Mit seinem Bruder in der Eintracht leben ist, was volle Genüge in unser Leben, in unsere Beziehung zu Gott, in unseren Gehorsam dem Wort Gottes gegenüber bringt.
B. Der vom Hermon herunterrinnende Tau (2. Bild)
Nach dem Öl beschreibt der Tau die Bruderliebe. In halböden Ländern ist Tau eine wahre Lebensquelle. Wenn die Propheten von den messianischen Zeiten träumen, gibt es immer Wasser in Fülle, Flüsse und Ströme. In Dürrezeiten ermöglicht es der Tau am Morgen den Pflanzen zu überleben. Überraschend ist hier, dass der Tau vom Hermon kommt, d.h. von einem 2 8OO Meter hohen Berg, der oft mit Schnee bedeckt ist. Dort entspringt der Jordan und das Wasser vom Hermon bewässert das ganze Palestina. Der Berg Hermon liegt an der Nordgrenze Israels mit dem Libanon, mit Nachbarn, die sich manchmal kaum brüderlich benehmen. Und gerade von daher, sagt der Psalm, kann der echte Segen kommen. Das Wasser fliesst vom Hermon herunter und ergiesst sich über die Berge Zions – d. h. Jerusalem, im Süden Palestinas. Unser Glaube kann nur dadurch leben, dass wir in Verbindung mit aussen stehen, dass wir den Austausch mit den anderen annehmen, mit denen, die nicht unsere Brüder oder unseresgleichen sind. Schotten wir uns von der Aussenwelt ab, so werden mir verkommen. Wir müssen uns öffnen, mit unseren Brüdern verbunden leben, aber auch den anderen und sogar den Feind aufnehmen.
Der Berg Zion ist wo Jerusalems Tempel steht, das Sinnbild von Gottes Wohnstätte. Und es ist wohl wahr, dass unser Glaube immer auszutrocknen droht. Er braucht eine Quelle lebendigen Wassers, um wie ein grünender, fruchtbarer Garten zu bleiben und keine öde und unfruchtbare Wüste zu werden.
Deshalb ist das Wasser, wie auch das Öl, ein Bild von Gottes Gegenwart. Diese frische Lebensquelle entspringt schliesslich aus dem Bewusstsein, dass wir als Brüder verbunden leben. Das kann unser eigenes Verhältnis zu Gott, unseren Glauben bewässern.
In diesem Psalm veranschaulichen mehrere literarische Verfahren, dass was die Brüder im Vers 1 erleben und der Segen im Vers 3 eng miteinander verbunden sind. Diese beiden parallelen Zeilen können als sich gegenseitig widerspiegelnd gelesen werden. Die Verbundenheit der Brüder hat mit der Gnade des ewigen Lebens zu tun. Die Hervorhebung des « Herabrinnens » der Sinnbilder unterstreicht, dass die Verbundenheit der Brüder im Segen des für immer bestehenden Lebens immer von oben kommt. Sie ist eine geschenkte Gnade, kein Anrecht.
Diese Bewegung nach unten führt zum Schluss. Was diese Brüder verbindet, ist ein gemeinsamer Segen. Sie sind Brüder, zuerst einmal weil sie dasselbe Erbe geniessen : Leben ohne Ende. Die Freude, die ihnen zusteht, kommt nicht einfach daher, dass sie Brüder sind, oder Brüder miteinander, sondern dass sie in der Anbetung des barmherzigen Herrn verbunden sind, der ihnen das Leben ohne Ende geschenkt hat. Die gemeinschaftliche Anbetung des Herrn als Lebensquelle, ist es, die « so wohltuend und so schön »ist. Dieses Heil, dieses Leben ist eine Gnade, ein Segen, mitten im Bund zwischen Gott und seinem Volk. Die beiden Vergleiche, das Weihöl und der Tau, heben Gottes Segen hervor und jeder versinnbildlicht diese Gnade Gottes. Da geschieht die Fülle des Verhältnisses zu Gott : in der Bruderliebe und in der Offenheit den weniger nahen gegenüber und auch da « rieselt » Gottes Segen auf uns herunter und da rinnt sogar das Leben zu uns vom Hermon herunter, von aussen her. Und da, eben da findet man den Segen und das ewige Leben.
Schluss
Echte Einheit unter Brüdern ist nur dank dem Segen des ewigen Lebens in Jesus Christus möglich. Ewiges Leben gibt es nur in ihm. Er sagt : « Ich bin die Auferstehung und das Leben » (Johannes 11.25). Es wird geschenkt und nicht gemacht. Es ist weit mehr als ein menschliches Kunststück ode reine menschliche Leistung. Allen Überlieferungen und verschiedenen Herkünften im Rahmen der Kirche zuwider hat jeder, der an Jesus Christus glaubt ewiges Leben (Joh 3.15). Wer an Jesus glaubt ist in ihm und steht in brüderlicher Verbindung mit allen, die in Christus sind. Diese Einheit in Christus besteht schon jetzt. Sie ist da. Es liegt an uns, sie zu unterhalten und zu bewahren. In seinem hohenpriesterlichen Gebet betet Jesus für diejenigen, die durch die Verkündigung der Apostel an ihn glauben werden : « Ich lebe in ihnen und du lebst in mir, so sollen sie zu einer vollkommenen Einheit werden. » (Joh 17.23). In seinem Brief an die Epheser sagt Paulus : « Bemüht euch darum, die Einheit zu bewahren, die der Geist Gottes euch geschenkt hat. Der Frieden, der von Gott kommt, soll euch alle verbinden ! » (4.3) Weiter im selben Kapitel spricht er von unserem Wachstum in Christus und vom Aufbau des gesamten Körpers, « So soll es dahin kommen, dass alle durch den selben Glauben und durch die gemeinsame Erkenntnis des Sohnes Gottes verbunden werden » (V. 13). Der selbe Apostel ruft uns auf : « Tut alles in der Liebe ! Sie verbindet euch und führt euch dadurch zur Vollkommenheit. » (Kol 3.14).
Brüderliche Gemeinschaft kommt nicht von allein, per Zufall, sie lebt und wird gestärkt durch das Öl und den Tau, zwei Bilder der Gegenwart Gottes unter uns. Bewahren wir diese Bilder, um die brüderliche Gemeinschaft immer aufs neue zu hegen und zu fördern, die uns in Gottes Wort angeboten wird.
Wie wohltuend, wie schön, wenn Brüder beieinander bleiben und sich gut verstehen … Dort will der Herr seinen Segen schenken, Leben, das für immer besteht.
L. N.